Gutes Wachstum - schlechtes Wachstum?
Das weltweit prägende Wirtschafts- und Wohlstandsmodell westlichen Zuschnitts ist fixiert auf Wachstum und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Volkswirtschaften. Jedwedes politische Reformprojekt wird unter dem Vorbehalt diskutiert, dass es Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden darf. Ganz gleich, ob es um die Förderung sozialer Gerechtigkeit und der Menschenrechte oder um den Schutz von Umwelt und Klima geht, Wachstum wird fast immer gleichgesetzt mit Entwicklung und Wohlstand. Mehr Wachstum bedeutet dementsprechend Fortschritt und Glück, weniger Wachstum Rückschritt und Bedrohung.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das Modell stetigen Wirtschaftswachstums nicht nur in Industrieländern lange Zeit als Garant eines ungetrübt positiv wahrgenommenen Fortschritts gesehen wurde. Auch in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern, deren Wohlstandsniveau erheblich niedriger ist, ist es zum Leitbild geworden und beansprucht damit globale Gültigkeit.
Auf der Kehrseite der weltweit herrschenden Wachstumspolitik stehen jedoch schwerste Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen, Umweltzerstörung, Raubbau an natürlichen Ressourcen, ein Rückgang der biologischen Vielfalt sowie ein lebensbedrohlicher Klimawandel in vielen Ländern der Welt. Zudem weitet sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aus.
Hat die Zauberformel „Mehr Wachstum gleich mehr Zufriedenheit“ angesichts dieser Bedrohungen überhaupt noch Bestand? Ist unsere Versessenheit auf ein ständiges Höher, Weiter, Schneller tatsächlich der richtige Weg, um Armut weltweit zu überwinden? Wie kann es gelingen, Wohlstand für alle Menschen – in Nord und Süd – zu schaffen und gleichzeitig Klima und Umwelt zu schützen? Wie wollen wir künftig leben – in Deutschland und in der Welt?
Mehr Wachstum, mehr Zufriedenheit?
Wissenschaftler haben festgestellt: Zufriedenheit und Glück steigen nur bis zum Erreichen eines bestimmten Pro-Kopf-Einkommens mit dem Wirtschaftswachstum. Dann löst sich der Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und verschiedenen Indikatoren für Zufriedenheit und Wohlfahrt auf. Wenn aber wirtschaftliches Wachstum im klassischen Sinne keine notwendige Vorbedingung für das Wohlergehen der Bevölkerung darstellt, entfällt eine wesentliche Legitimation dafür, Wirtschaftswachstum auch weiterhin zum entscheidenden Maßstab für die Politik zu machen. Zumal wirtschaftliche Wachstumsraten einzelner Länder des globalen Südens zu erheblichen Teilen nicht nur durch die Auslagerung ökologischer, sondern auch sozialer Kosten erreicht werden: Wettbewerbsvorteile von Unternehmen, die in einigen Ländern und für bestimmte Eliten einen Zuwachs des materiellen Wohlstands bewirken, beruhen häufig auf ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und eklatanten Verletzungen von Menschenrechten in anderen Ländern und anderen Bevölkerungsgruppen.
Mehr Wachstum, weniger Armut?
Erschwerend wirkt, dass die Weltbevölkerung nicht nur weiter wächst, sondern viele Menschen weiterhin von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen bleiben und damit gezwungen sind, in Armut zu leben. Daran hat auch das Modell klassischer „nachholender“ Entwicklungsprozesse wenig ändern können, im Gegenteil: Wirtschaftliches Wachstum führte in vielen Entwicklungsländern nicht zu einer Überwindung der strukturellen Ursachen für Armut und Ungleichheit, sondern kam nur kleinen Teilen der Bevölkerung zugute.
Mehr Wachstum, mehr Umweltschutz?
Mit der ungebremsten Produktion und dem Konsum von Gütern und Dienstleistungen hinterlassen wir irreversible Spuren in der Umwelt. Der „ökologische Fußabdruck“ der Konsumgesellschaften überschreitet seit Jahrzehnten bei Weitem die Biokapazität, das heißt die natürliche Regenerationsfähigkeit der Erde. Unsere Wirtschaftskreisläufe sind nicht mehr im Gleichgewicht mit den globalen ökologischen Kreisläufen, sondern wir entnehmen der Erde Rohstoffe, die nicht mehr oder nicht schnell genug ersetzt werden können. Wir übernutzen damit permanent und wissentlich die Grenzen der Ökosysteme. Schon heute benötigen wir zur Aufrechterhaltung des globalen Wirtschaftssystems die Ressourcen von eineinhalb Planeten. Geht unser Ressourcenhunger unverändert weiter, benötigen wir bereits 2030 die Ressourcen von zwei Planeten. Unser wachsender Ressourcenhunger frisst damit buchstäblich die Lebensgrundlage künftiger Generationen auf. Der Ausweg aus der Armut und dem drohenden ökologischen Kollaps der globalen Ökosysteme kann deshalb gerade nicht in der Integration der Länder des globalen Südens in ein Wirtschaftssystem bestehen, das ökologisch nicht zukunftsfähig ist. Wir müssen dringend neue Entwicklungswege beschreiten, damit künftig die entstehenden Zuwächse an Lebensqualität an alle Menschen gerecht verteilt sind.
Und: Wir müssen mit der Suche nach diesen Alternativen im reichen Norden beginnen!
Quelle: Gutes Wachstum – Schlechtes Wachstum? Wie wird Deutschland nachhaltig?